Die Vedute des Konventbaus

Die Stationen bezeichnen Orte in Amorbach und Umgebung, die Theodor W. Adorno in seiner Kindheit gerne aufsuchte.

Die Stationen bezeichnen Orte in Amorbach und Umgebung, die Theodor W. Adorno in seiner Kindheit gerne aufsuchte.

Adorno 2

[Th.W. Adorno, AMORBACH, in: Ohne Leitbild – Parva Aesthetica – S. 20]

Wenn man von Süden her über den Weiher im Seegarten schaut, geht der Blick zwischen dem östlichen Ufer, das mit seinem dichten Bewuchs von Sträucher und Bäumen sehr schnell in die Höhe führt, und dem lichteren, linken Rand mit seinem Uferweg hart am Wasser, in nordöstliche Richtung auf den Schloßplatz und den Konventbau zu. Das Terrain, ein Wiesenstück, steigt hier an, die es säumenden Bäume nähern sich einander und vom Blickpunkt hinter dem See aus kann man den Schloßplatz nicht sehen und vom Konventbau nur einen „kleinen, überschaubaren Abschnitt“. Das Kind Teddie Adorno erfährt, was der Konventbau in dieser Vedute zu sehen gibt. Es erfährt „daran zum erstenmal, was Architektur sei.“ Der Mann in den Sechzigern, der den Essay AMORBACH schreibt, erfährt dies erneut und reflektiert seine kindliche Erfahrung: „Bis heute weiß ich nicht, ob der Eindruck einfach darauf zurückgeht, daß mir am Konventsbau das Wesen von Stil aufging […].“ Wenige Seiten später erläutert Adorno, aus seiner Erfahrung im amerikanischen Exil, was er unter Stil versteht. „Kommt man nach Amerika, so sehen alle Orte gleich aus. Die Standardisierung, Produkt von Technik und Monopol, beängstigt.“ [AMORBACH, S. 23]. Stil erscheint dagegen als „qualitative Differenz“, als das Unvergleichliche, Unaustauschbare des Einzelnen, „selbst wenn nachträglich sich erweist, daß es nicht einzig war.“
Dem Konventbau „niedrig, außergewöhnlich lang, mit grünen Läden, angeschmiegt an die Abteikirche […] fehlt, außer den Eingängen, jede energische Gliederung.“

Alter Konventbau, Ostansicht

Im Gegensatz zur typischen Gliederung barocker und klassizistischer Bauten, wie sie z. B. Ignaz Neumanns Neuer Konventbau (1785) auf der östlichen Seite des Klosters zeigt, erscheint die ‘Unbestimmtheit᾿des Alten Konventbaus (1690) zu seinem Stil zu gehören. Sie standardisiert nicht, hindert aber auch nicht, daß das Kind die Erfahrung von Architektur macht. Die Reflexion dieser kindlichen und wiederkehrenden Erfahrung führt bezeichnender Weise zu keiner Definition, was denn Architektur sei, sondern führt weiter in die offene Frage: „Bis heute weiß ich nicht, ob der Eindruck einfach darauf zurückgeht, daß mir am Konventsbau des Wesen von Stil aufging, oder ob doch in seinen Maßen, unter Verzicht auf jeglichen Eklat, etwas sich ausspricht, was danach die Bauten verloren.“

Blick vom Seegarten aus


Es ist charakteristisch für den Essay AMORBACH, daß kindliche Erfahrungen nicht nur erinnert werden – reizvolle anekdotische Einzelheiten – , sondern daß ihre Einsichten gelten, in der Reflexion Geltung gewinnen, über den kindlichen Horizont hinaus, und schließlich „bis heute“ und „stets noch“ die Gedanken und Fragen des Autors bewegen. „Die Vedute […] gibt einen kleinen, überschaubaren Abschnitt des Klosters frei. Stets noch stellt an dem Teil die Schönheit wieder sich her, nach deren Grund ich vorm Ganzen vergeblich frage.“ Der Blick auf den Konventbau endet unversehens philosophisch. Aber die begrifflichen Momente – Teil und Ganzes und ihre Spannung, die Schönheit des Teils, fraglos, da sie sich erneuert, und die fragliche des Ganzen – werden nicht dialektisch durchgearbeitet. Sie tauchen auf im Zusammenhang von Erfahrung, Einsicht, Reflexion und gegenwärtigem Fragen; sie laufen vom Konventbau und aus dem Seegarten auf Adornos ÄSTHETISCHE THEORIE (1969) zu.

Text: Friedrich A. Uehlein
Fotos: Fürstenhaus zu Leinigen, abbarchiv