Hotel Post

Die Stationen bezeichnen Orte in Amorbach und Umgebung, die Theodor W. Adorno in seiner Kindheit gerne aufsuchte.

Die Stationen bezeichnen Orte in Amorbach und Umgebung, die Theodor W. Adorno in seiner Kindheit gerne aufsuchte.

Aufnahme nach 1912, mit einem geöffneten Fenster des „Fürstenzimmers“ im 1. Stock.
Unten am Eingang steht ein Hoteldiener und harrt der Gäste, die da kommen.
(Heute: Emich’s Hotel, Schmiedsgasse 2 in Amorbach)


Adornos Familie hatte nie ein eigenes Haus in Amorbach, wie noch 1995 in dem voluminösen Band Die großen Deutschen unserer Epoche behauptet wurde. Sie logierte stets im Hotel Post, wo das beste Zimmer, Nr. 3 im 1. Stock, für sie reserviert war.
Im sogenannten „Fürstenzimmer“ hatte vor ihr wohl nie ein Mensch mit ‚blauem Blut‘ übernachtet. Die Bezeichnung dürfte von der Familie Spoerer, die das Hotel seit 1742 besaß, als (augenzwinkernde) Verbeugung vor den Stammgästen aus Frankfurt erfunden worden sein. Adornos Mutter und Tante, Töchter eines mittellosen Fechtmeisters, bildeten sich nämlich ein, sie seien Nachfahren „alten italienischen Adels“ (Max Horkheimer). Auch Adorno selbst hing offenbar – gelegentlich – dieser Selbsttäuschung an. In Wahrheit waren seine Urgroßeltern mütterlicherseits einfache Bauern (und Analphabeten) auf Korsika.
Wenn sich die Nachricht verbreitete, „die Wiesengrunds sind wieder da“, war das für die Amorbacher Jugend „gleichbedeutend mit […]: Ferien sind“, schrieb Annemarie Trabold (*1915), deren Familie einen Schreibwarenladen in der Nachbarschaft des Hotels Post besaß, 1968 an Adorno.

Willy Spoerer (1912-1990), der ältere Bruder des vorletzten „Post“-Inhabers Karl Spoerer, konnte sich erinnern, dass Adorno, Mutter und Tante „mehrmals jährlich“, oft „auf mehrere Wochen“, ins Hotel kamen. Der vielbeschäftigte Vater habe sich allenfalls an (verlängerten) Wochenenden blicken lassen. So sind etwa für das Jahr 1913 Aufenthalte zur Sommerfrische und Anfang Oktober nachweisbar; am 27. Juli des Jahres, einem Sonntag, bestellte Adornos Onkel Louis Calvelli-Adorno (1866-1960) auf einer Postkarte an seinen ebenfalls in Amorbach weilenden Sohn Franz (1897-1984) Grüße „an die Tantens, Teddie“ und die Familie Spoerer, nicht aber an – den offenbar an diesem Tag abwesenden – Oscar Wiesengrund.

Werbeanzeige der Weinhandlung Bernhard Wiesengrund in der „Frankfurter Schulzeitung.
Organ des Lehrervereins zu Frankfurt a.M.“ vom 1. Dezember 1911.

Der gebürtige Frankfurter Oscar Alexander Wiesengrund (1870-1946) führte seit 1896 die Geschäfte der Weinhandlung Bernhard Wiesengrund und soll auch das Hotel Post mit Wein und Spirituosen beliefert haben. Besonders erfolgreich und kreativ war er als Erfinder und Hersteller von Frucht-Likören, für die er den exotischen Geburtsnamen seiner Frau (und seiner Schwägerin) als Produktbezeichnung verwendete: Calvelli. Noch vor Ende des Ersten Weltkriegs gründete er 1918 gemeinsam mit den Frankfurter Teehäusern Messmer und Ronnefeldt eine Getränke-GmbH, deren koffeinhaltige Tee-Ersatz-Marke „Stimula“ auch in Amorbach Abnehmer gefunden haben soll.

„Teddie“ Wiesengrund-Adorno mit seiner Mutter (Mitte) und seiner Tante im Garten des Hotels Post, um 1918.
„[…] er sieht aus […] wie Charlie Chaplin, ja doch, der Bart, der Scheitel, exakt wie Chaplin“ (Hanns-Josef Ortheil, 2003).

Adornos Mutter Maria und ihre Schwester Agathe waren ausgebildete Sängerinnen. 1885/86 am Hof-Operntheater in Wien engagiert, sang Maria dort unter anderem den Hirtenknaben in Richard Wagners Tannhäuser. Dagegen blieb Agathe ihrer Kleinwüchsigkeit wegen eine Karriere als Opernsängerin versagt.

Maria Wiesengrund und Agathe Calvelli-Adorno machten „Teddie“ von Kindesbeinen an nicht nur mit klassischer Musik vertraut, sondern auch mit vielen heute vergessenen Schlagern wie „Das Kanapee“, „Immer langsam voran“ oder „Der schönste Platz, den ich auf Erden hab‘, / Das ist die Rasenbank am Elterngrab“. Mit seinen ‚zwei Müttern‘ spielte er als Kind sehr gerne Karten, vor allem das „Komponisten-Quartettspiel“ und besuchte schon sehr früh Klavierabende und Opernaufführungen in Frankfurt am Main.

Der Hotelier Carl Spoerer (1842-1909).

„Alles denkt an Euch und kennt Euch hier“ (Adorno an die Mutter. Amorbach, 24. September 1950). Die Anfänge der geschäftlichen und privaten Kontakte zwischen den Familien Wiesengrund-Adorno und Spoerer fallen noch in die Zeit von Carl Spoerer. Mit den Jahren intensivierten sich diese Beziehungen, wie auch der Brief an die Mutter erkennen lässt. Darin ist auch von Spoerer-Verwandten die Rede, die längst nicht mehr in Amorbach wohnten: zum Beispiel „die schöne und liebe Gretel [Spoerer], an der ich sehr hing“ (Adorno), und die mit dem Münchner Kunsthistoriker und Musikkritiker Josef Ludwig Fischer verheiratet war, dem „einzigen Akademiker“, den Karl Valentin „akzeptiert“ haben soll (Anne-Marie Fischer-Grubinger).

Blick zum vorderen Eingang des „Altdeutschen Zimmers“ im Hotel Post mit geschnitzter
Wandtäfelung von Konrad Tretter (Amorbach), der auch das Aufgangsgeländer anfertigte.

Die „Zechgelage“ des mit den Wiesengrunds befreundeten Malers Max Rossmann in der „Post“ waren legendär. „Etwas von dem üppigen Lebensstil mit Kaviar und Champagner teilte sich“ durch ihn „der Post mit, deren Küche und Keller übertrafen, was man von einem ländlichen Gasthof hätte erwarten dürfen“ (Adorno: Amorbach). Um 1912/14 wurde in der „Post“ vorzugsweise echt französischer Champagner der Marke Laurent-Perrier kredenzt.

Zu seinen Convivien versammelte Rossmann Freunde und Bekannte aus nah und fern um sich, darunter Amorbacher wie den Fotografen Anton Fahs und den Schreinermeister Konrad Tretter oder auch einen Frankfurter Kaufmann namens Josef Beyer, der in Amorbach als „Privatier“ lebte. Adorno träumte am 13. September 1942 von dem „reichen Amorbacher Herrn“ und einem seiner Bediensteten, dem Lohnkutscher Wald (Vorname unbekannt), der am Gotthardsweg wohnte (Adorno: Traumprotokolle).

Das Gastzimmer des Hotels Post, um 1925.

Max Rossmann, der „eigentliche Wiederentdecker von Amorbach“, brachte auch Sänger des Bayreuther Festspielensembles dorthin. An einen Holländer, der – wie historische Aufnahmen bestätigen – in der Tat einen starken Akzent hatte, konnte Adorno sich noch nach Jahrzehnten erinnern: den königlich bayrischen Kammersänger Anton van Rooy (1870-1932), der nach dem Urteil von Cosima Wagner (1897), „eine der schönsten Stimmen“ besaß, „die ich gehört habe“. „Obwohl ich nicht älter als zehn Jahre kann gewesen sein, ließ er sich gern in Gespräche mit mir ein, als er meine Passion für Musik und Theater bemerkte“ (Adorno: Amorbach). Für den eminent begabten (und außerordentlich kenntnisreichen) jungen Adorno, Sohn einer ehemaligen kaiserlichen Hofopernsängerin, verwandelte sich durch solche Gespräche das Gastzimmer der „Post“ in eine Bühne der besonderen Art. Er trat dort gleichsam auf – ein „Glückspilz des Wortes“ – wie Karl Kraus einmal über Franz Werfel gesagt hat -, „dem es zur Verfügung steht und dem der Schnabel hold gewachsen ist, um von allem und zu allem, was es gibt, zu sprechen, und vor allen, die es gibt“.
Das machte für ihn ganz wesentlich den unverlierbaren Zauber von Amorbach aus.

Text: Reinhard Pabst

Adornos Amorbach, September 2020, Rundgang mit R. Pabst.

AMORBACH IN DER LITERATUR 

Hotel Schafhof, Amorbach, 30. 7. 2013, Vortrag von Reinhard Pabst