Kleines Amorbacher Adorno-Bestiarium

Die Stationen bezeichnen Orte in Amorbach und Umgebung, die Theodor W. Adorno in seiner Kindheit gerne aufsuchte.

Die Stationen bezeichnen Orte in Amorbach und Umgebung, die Theodor W. Adorno in seiner Kindheit gerne aufsuchte.

Adorno 2

Butz

Verwundete Rehe sind wir selber (Theodor W. Adorno: Brief an Max Horkheimer. London, 14. Dezember 1937)

Butz. „Nicht minder verbürgt, wenngleich mehr der Sphäre von Witzblättern um 1910 zugehörig, ist ein Ereignis aus Ernsttal, dem Leiningenschen Besitz. Dort erschien eine Respektsperson, die Gattin des Eisenbahnpräsidenten Stapf, in knallrotem Sommerkleid. Die gezähmte Wildsau von Ernsttal vergaß ihre Zahmheit, nahm die laut schreiende Dame auf den Rücken und raste davon. Hätte ich ein Leitbild, so wäre es jenes Tier.“ (Amorbach)
Dieses Tier hat tatsächlich existiert. Butz hieß die Wutz, sie war eine Art Maskottchen des einstigen Gasthauses und der benachbarten fürstlichen Brauerei im heutigen Mudau-Ernsttal bei Amorbach. Seit den späten 1890er Jahren vermarktete der Hotelier und Braumeister Ernst Hemberger (*1872) diese ungewöhnliche Odenwälder Attraktion auf Ansichtskarten. Eine der frühesten, noch gezeichneten Bildpostkarten zeigt das handzahme Wildschwein ganz brav neben einer Frau im roten (!) Kleid, höchstwahrscheinlich Hembergers Gattin.

Da Schwarzwild rot-farbenblind ist, hatte sie von der Butz nichts zu befürchten.
Unter den Touristen sprach sich schon bald herum, dass dieses „Borstentier, dem allerdings ein großer Teil seines Schmuckes fehlt“, überaus verfressen war und deshalb regelmäßig viele Wanderer bedrängte, ja sogar „Angriffe“ auf deren Rucksäcke unternahm. Seine von Adorno kolportierte plötzliche Attacke auf Elisabeth Stapff, die Frau des Präsidenten der Frankfurter Eisenbahn-Direktion, Dr. Paul Stapff (1869-1930), ließe sich nur so erklären – wenn sie denn überhaupt stattgefunden haben sollte. Stapff amtierte in Frankfurt zwischen 1919 und 1925. Die legendäre Schwarzwilddame wäre zu dieser Zeit bereits hochbetagt gewesen.


Fischotter. „Gestern sah ich im Amorbacher Seegarten einen leibhaftigen und wilden Fischotter in den Weiher springen und will selbst in diesem schnöde sachlichen Brief nicht versäumen, vom Verwöhnten Tier Sie zu grüßen.“ (Theodor W. Adorno: Brief an Walter Benjamin. Frankfurt, 13. April 1934).
Damit bezog sich Adorno auf den Prosatext Der Fischotter aus Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert, erschienen in der Frankfurter Zeitung (1933), in dem dieser schildert, wie er als kleiner Junge lange und oft vergeblich darauf wartete, den berühmten Fischotter im Berliner Zoo zu erspähen: „Denn es war ein verwöhntes Tier, das hier behaust war und dem die leere, feuchte Grotte mehr als Tempel denn als Zufluchtsort diente.“
Im Gegensatz zu dem wilden, ungebändigten Otter in Amorbach soll das Berliner Exemplar jedoch „die Zahmheit selbst“ gewesen sein: es benahm sich „gegen seinen Wärter […] wie ein liebebedürftiges Kind“ (Brehms Tierleben, 1922).


Forelle. Ohne zu zögern antwortete Karl Spoerer, der langjährige Chef des Hotels Post, 1995 auf meine Frage nach Adornos Lieblingsessen: Forelle blau.

Werbeanzeige Hotel Post 1949: „Forellenfischerei“


Karpfen. In der zweiten seiner Miniaturen über Amorbach erwähnt Adorno den „von Karpfen bevölkerten, sympathisch riechenden Weiher“ im Seegarten.

Krebse. „Als kleine Sensation: bei einem Mann aus San Francisco, der hier auf seiner Besitzung lebt, gab es im See gefangene Krebse, richtige, die ersten seit Paris, freilich ganz klein, so wie die in Amorbach, aber doch eine Erinnerung an den richtigen Geschmack.“ (Theodor W. Adorno: Brief an die Mutter. Lake Tahoe, California, 18. September 1949).
Es lässt sich leider nicht mehr rekonstruieren, nach welchem Rezept die Krebse im Hotel Post zubereitet wurden: „nach Laibacher Art“ und in Dillsauce war ausgesprochen beliebt. Bei der bloßen Erinnerung an die „berühmten Krebspastetchen“, die er mit seinem verehrten Lehrer, dem Komponisten Alban Berg, 1925 im Schlemmerlokal von Rudolf Weide im 13. Wiener Bezirk verschlang, lief Adorno noch Jahrzehnte danach das Wasser im Mund zusammen (Berg. Der Meister des kleinsten Übergangs, 1968).

Rehe. In einem parodistischen Lied seines Singspiels Der Schatz des Indianer-Joe (1932/33) hat Adorno „Reh“ auf „weh“ gereimt: „Da gehn die Jäger auf die Jagd, / da laufen die Hasen und Reh. / Die werden alle umgebracht, / das tut den Jägern (!) weh.“
Schmerzenslaute verletzter Wildtiere waren ihm sicher in natura, zum Beispiel von Wanderungen in den Wäldern um Amorbach, bekannt. In einem Brief an Max Horkheimer vom 28. Januar 1938 erwähnt er das „leise Winseln des verwundeten Rehs, das diesmal ich selber bin“.

Ein vielzitierter Aphorismus im ersten Teil (1944) der Minima Moralia lautet: „In der Erinnerung der Emigration schmeckt jeder deutsche Rehbraten, als wäre er vom Freischütz erlegt worden.“
1958 hat Adorno in einem Gespräch, das Adolf Frisé im Hessischen Rundfunk mit ihm führte, davon erzählt, wie er 1949, in den ersten Wochen nach der Rückkehr aus der Emigration, in Wiesbaden voller Genuss einen Rehbraten verzehrte, der gerade so wie „das Reh in der Kindheit mit Rahmsauce“ schmeckte habe. Dabei habe er einen unvergleichlichen Rausch empfunden, in dem sich „das Spirituelle des Heimfindens mit der wilden Lust, diesen Geschmack der Rahmsauce zum Reh wiederzufinden“, verbunden hätten.

Tigerin. Adorno über Amorbach: „Es ist schließlich doch das einzige Stückchen Heimat, das mir blieb – äußerlich ganz unverändert und womöglich noch verschlafener als früher -, und wenn irgendwo, dann hab ich hier das Gefühl als ob Du bei mir wärest wie früher, mit der Tigerin.“ (Brief an die Mutter. Amorbach, 24. September 1950). „Tigerin“ war der familieninterne Kosename von Adornos Tante Agathe Calvelli-Adorno (1868-1935), mit der er viele unvergessliche Ferien in seinem „Lieblingsstädtchen“ verbrachte. Adornos Vater wurde als „Hauerwatz“ oder „Wildschweinkönig“ geneckt, seine Mutter mit ‚tierischen‘ Spitznamen wie zum Beispiel „Wundernilstute“ bedacht. In Adornos privater Mythologie spielten Flusspferde, bei denen die Mutter um „ihr Kind zärtlich besorgt“ ist und „auch in den unschuldigsten Dingen Gefahr“ sieht (Brehms Tierleben), zeitlebens eine sehr große Rolle.

Wildsau von Ernsttal. → Butz
Wildschweine. An Barbara Picht, die Frau des Soziologen und Romanisten Robert Picht (1937-2008), schrieb Adorno am 7. Oktober 1964, er habe „im Odenwald an einem höchst entlegenen Platz der nachmittäglichen Fütterung von 300 (in Worten: dreihundert) Wildschweinen“ beigewohnt, „die sich ungemein zivilisiert benahmen. An einem Baum war eine gedruckte Verlautbarung angeheftet: ‚Wir bitten um Ordnung und Sauberkeit‘. Wen?“

Zusammengestellt von Reinhard Pabst, 2020